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GEDANKEN ZUR PHILOSOPHIE KARL RAIMUND POPPERS - Knut Goth

Student, Sektion Philosophie, Universität Leipzig

Editor's note: This note was received before the demise of the former German Democratic Republic.

"Heutzutage ist es durchaus nötig, sich zu entschuldigen, wenn man sich mit Philosophie in irgendeiner Form beschäftigt. Vielleicht mit Ausnahme einiger Marxisten scheinen die meisten Fachphilosophen die Verbindung mit der Wirklichkeit verloren zu haben. ... Nach meiner Auffassung ist der größte Skandal der Philosophie, daß, während um uns herum die Natur - und nicht nur sie - zugrundegeht, die Philosophen weiter darüber reden - manchmal gescheit, manchmal nicht -, of diese Welt existiert. Sie treiben Scholastik..." (Popper, 1973: 44). Gedanken dieser Art, haben mich - einen Marxisten - dazu bewogen, die Philosophie Poppers genauer zu studieren. Dies um so mehr, da er ein erklärter Anti-Kommunist ist. Daß solch ein "ideologischer Gegner" Sätze schreibt, an deren Richtigkeit und Wichtigkeit ich keinen Zweifel hege, war für mich sehr überraschend. Noch erstaunter allerdings war ich, nach dem vollständigen Studium einiger Arbeiten Poppers. Obwohl mir bisher natürlich längst nicht alle Bücher, Artikel, Interviews etc. Poppers zugänglich waren, erscheinen mir die Resultate der bereits erfolgten Studien, zumindest persönlich, sehr wertvoll und interessant. Die nachfolgende kurze Darstellung einiger der wichtigsten Ergebnisse soll das belegen. Eine umfassende Begründung dieser Überlegungen wird allerdings aus Platzgründen nicht möglich sein.

1.Die meisten Kritiken am erkenntnistheoretischen Ansatz Poppers gehen am Objekt ihrer Kritik in den wichtigsten Punkten vorbei. Das liegt (1) daran, daß mit gleichen Worten verschiedene Bedeutungen verbunden werden und (2) an einer ungenügenden Gesamtsicht von Poppers Erkenntnistheorie.

2.Die Schwierigkeiten, die sich aus der unterschiedlichen Verwendung von gleichen Worten ergeben, treten dort am deutlichsten hervor, wo von Falsifikation und Verifikation die Rede ist. Falsifizierbarkeit ist für Popper eine rein logische Eigenschaft von Aussagen, die sie besitzen sollen, um als wissenschaftlich zu gelten. Das bedeutet, daß die Falsifikation einer Aussage für Popper immer logischer und nie empirischer Natur ist. Auf letzteres aber zielt die Kritik, wenn behauptet wird, daß jede Falsifikation einer Aussage eine Verifikation einer anderen Aussage voraussetzt. D.h. jedoch, daß man von verschiedenen Dingen und somit aneinander vorbei redet. Die Verifikation einer Aussage ist nach Popper unmöglich, da der Bereich der möglichen Erfahrung niemals als abgeschlossen gelten kann (d.h. der Individuenbereich, über den sich eine Behauptung erstrecken soll, ist prinzipiell unendlich).

3.Der Grund für die Mißverständnisse hinsichtlich der Falsifikationsidee ist die verschiedenartige Fassung des Verhältnisses von Theorie und Erfahrung. Für Popper sind Theorie und Erfahrung keine korrelativen Begriffe. Jede Aussage ist theoretisch. Einen Theoriebegriff im Sinne einer besonders ausgezeichneten Art von Wissen gibt es bei Popper nicht. Erfahrung fällt in den Bereich der psychischen Erlebnisse, d.i. "Welt 2". Als Korrelat zu Theorie fungiert bei Popper Praxis. Praxis wird dabei (im weitesten Sinne) als Anwendung von Wissen (welches immer theoretisch ist) verstanden. Die Argumentation, daß Poppers Erfahrungsbegriff auf sinnliche Wahrnehmung und damit auf das Individuumbeschränkt ist und so die prinzipiellen Voraussetzungen jedes Empirismus teilt, ist ungerechtfertigt. Popper löst die Probleme, die sich aus seinem "empiristischen" Erfahrungsbegriff ergeben durch die Annahme, daß es so etwas wie eine "Welt der objektiven Gedankeninhalte" ("Welt 3") gibt, in der sich die Gattungserfahrung speichert. Subjekt dieser Erfahrung ist nicht das vereinzelte Individuum, sondern die Menschheit.

4.Nach der Ansicht Poppers geht jeder Erfahrung etwas Theoretisches voraus. Erfahrung, Wahrnehmung etc. ist somit immer "theoriebeladen". Neues Wissen entsteht nicht durch einen Schluß aus der Erfahrung, sondern entspringt einer "kühnen Idee", einer "unbegründeten Antizipation" o.ä. (Induktionsproblem). Der Gefahr eines unendlichen Regresses entgeht Popper durch die Setzung eines "genetischen Apriori", das sowohl am Beginn der Entwicklung der Menschheit als Gattung stand als auch am Beginn der Entwicklung jedes einzelnen steht.

5.Theorien, die in Poppers Sinn als falsifiziert gelten, werden nicht einfach aus der Wissenschaft eliminiert sondern (dialektisch) aufgehoben. Waren sie vor ihrer Falsifikation anwendbar, so können sie auch weiterhin angewendet werden. Nur ihr Geltungsbereich ist nun eingeschränkt.

6.Das Wort "Wahrheit" verwendet Popper immer im Sinne von "absoluter Wahrheit". Mit "Bewährung" und "Bewährungsgrad von Theorien" beschreibt er das, was mit der Dialektik von relativer und absoluter Wahrheit erfaßt wird. Insofern Wahrheit immer absolute Wahrheit ist, existiert in Poppers Erkenntnistheorie auch kein Wahrheitskriterium. Wahrheit ist lediglich "regulatives Prinzip" allen Erkennens, ein Idealbegriff.

7.Wissen ist nach Popper immer Vermutungswissen. Das ist aber nicht gleichbedeutend damit, daß Popper alle Erkenntnis auf das Niveau der Vermutung einebnet, sondern nur eine Konstatierung eben dieses Charakters allen Wissens. Dies folgt aus Poppers Annahme, daß Fakt und Aussage über diesen Fakt grundverschieden voneinander sind. Sätze können nur durch Sätze, niemals durch Erfahrung, Tatsachen etc. begründet werden. Insofern besteht eine logisch unüberwindbare Kluft zwischen Theorie und Praxis. Diese Kluft wird theoretisch dadurch "überwunden", daß man festsetzt, wann eine Aussage als Tatsachenaussage gilt. In diesem Sinne ist Popper Konventionalist. Die "Tatsachenaussage" muß dabei so formuliert sein, daß sie nachprüfbar bleibt. Sie gilt - wie jeder andere Satz - nicht als gesichertes Wissen sondern nur als Vermutung. (Deshalb besitzt die logische Falsifikation einer Theorie auch keinen endgültigen Charakter, denn der Individuenbereich, für den eine Theorie gelten soll, kann sich verändern.)

8.Aus der konsequenten Trennung von Theorie und Praxis ergeben sich die wichtigsten Ansatzpunkte dafür, Poppers Gedanken weitergehend fruchtbar zu machen. Dies ganz im Sinne von Poppers Hauptanliegen: die immer gegebene Möglichkeit des Irrtums systematisch in Rechnung zu stellen, um so eventuellen Fehlern zu entgehen bzw. deren praktische Konsequenzen zu mildern. Es wäre zu untersuchen, welche "rein" theoretischen Mittel es gibt, Fehler zu erkennen, ohne sie zu begehen und welche sozialen Voraussetzungen gegeben sein müßten, um zu vermeiden, daß irgendein Wissen zu einem wie immer gearteten Dogma erstarrt.



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Fri Oct 13 08:28:42 BST 1995